Hamburg, 1985: Mit dem Jahr verbinde ich eine Menge. Musikalisch aber indes erst mal nichts. Im Jahr zuvor hatte meine Lieblingsband (immer noch) Depeche Mode künstlerisch einen großen Schritt nach vorn gemacht. „Some Great Reward“ hieß das Album, das mich mit seiner düsteren Art faszinierte. Und nur noch vom Nachfolger „Black Celebration“ übertroffen wurde, welches die Düsternis tiefschwarz färbte, mit gelegentlichen Farbnuancen, die wie Neonfarbe eines Graffiti wirkten. Aber das wollte ich gar nicht erzählen.
Hamburg, 1985: Es war ein typischer hanseatischer Herbstabend. Es war also reichlich kühl, es war reichlich windig und es nieselte. Streng genommen war es das, was man auch als arschkalt bezeichnen konnte. Aber das merkte ich nicht so richtig.
Ich stand in der Dunkelheit eines Freitagabends in einer Schlange wartender Menschen. Mein Herz klopfte bis zum Hals und in meinen Ohren rauschte es, so aufgeregt war ich.
Alle paar Sekunden sagte die innere Stimme „Komm, geh einfach. Das klappt sowieso nicht“.
Noch gefühlt 6 Leute vor mir.
„Und selbst wenn es klappt, was dann?“
Ja, was dann eigentlich? Ich hatte nur gehört, dass diese Disco etwas ganz Besonderes sein sollte. Etwas Spezielles. Verruchtes…
Noch 3 Leute.
Jetzt hätte man mein Herz wahrscheinlich durch das Shirt schlagen sehen können. Doch noch gehen? Wieder 25 Minuten mit der Bahn zurück in den Vorort?
Zu spät.
Das Wunder geschah. Ein mürrisch aussehender Türsteher, der in seiner Kluft einem Comic von Ralf König entsprungen sein konnte, hatte signalisiert, ich durfte weiter.
Der eher blasse, schmächtige (ja war ich damals) Junge aus der Provinz betrat das damals schon legendäre Front.
Ziemlich unsicher machte ich die ersten Schritte in eine neue Welt. So muss sich Armstrong auf dem Mond gefühlt haben. Bei mir lag es nicht an der mangelnden Schwerkraft, mehr an den weichen Knien. Und einem fassungslosen Staunen darüber, dass das doch ziemlich einfach war.
Langsam durchatmen. Cool wirken.
„Wer hat Dich denn reingelassen? Du bist doch nie im Leben 18, oder?“
Die strenge Stimme gehörte Willy. Aber den Namen kannte ich damals noch nicht. Willy Prange hatte mit seinem Freund Philip den Tanztempel eröffnet. Auch Willy hätte ohne Weiteres Ralf König für einen seiner Knollennasencharaktere Modell sitzen können. Seine Worte zeigten aber die gewünschte Reaktion.
Wenn Sie jemals vor Verlegenheit errötet sind, dann wissen Sie, wie sich das anfühlt, wenn die Wangen straff und warm werden.
Tatsächlich war ich ganz knapp vor dem 17. Geburtstag und sah mich schon auf direktem Wege wieder vor die Tür gesetzt werden. Aber das hatte ja auch so kommen müssen. Scheiße.
„Oh, der kann ja rot werden. Hör mal, ich will keinen Ärger. Wenn was passiert… da kannste dich klein machen.“
Das war bereits das zweite kleine Wunder des Abends. Unter einem hörbaren „aber schöne Haare hat er“ (tatsächlich waren das damals deutlich mehr als heute und sie waren dunkelblond) ging der Typ, der wohl was zu sagen hatte, von dannen.
Ich war drin. Ich durfte bleiben. Unfassbar.
Unfassbar klein war die eigentliche Tanzfläche, auf der sich verschwitzte Leiber zur Musik bewegten. Das hatte nichts mit Posing zu tun. Hier ging man hin, um zu tanzen.
Falsch, um zu leben. Hedonistisch, gierig auf das Leben. Die Atmosphäre des Ladens war aufgeladen. Von Lebenslust, dem Geruch nach Schweiß, mir unbekannten chemischen Substanzen, Sex.
Kennen Sie die Szene aus einem der Matrixfilme, als die freien Menschen von Zion sich in der Nacht in Erwartung der Maschinen in Ekstase tanzen? Genau wie das Front. Nur ohne Maschinen. Und an diesem Abend ohne Frauen.
Allein und miteinander tanzten Jungs und junge Männer mit verschwitzen Frisuren, die aber mal geföhnt und mit viel Haarspray gebändigt worden waren. Eher schlicht, aber schick im Stil der 80er gekleidet. Und dann waren dann die zahlreichen „gestandenen“ Kerle. Mit den unvermeidlichen Schnäuzern und in viel Leder.
Die Lust auf das Leben und die Musik vereinten sie. Sie schrien, sie tanzten, sie lebten.
Und ich hatte das Gefühl, genau hier will ich sein. Hier bin ich richtig.
Und diese Musik. Sie war wuchtig, sie trieb dazu an, sich zu bewegen. Sie vermittelte den Eindruck, als sei das alles ein überlanges Stück. Rhythmen und Bässe nahmen kein Ende. Und es war laut. Richtig laut. Dafür sorgte die für die Größe der Location doch recht großzügig bemessene Lautsprecheranlage. Ab und an meinte ich auch mal einen Titel aus meiner eigenen Plattensammlung zu erkennen, aber dann wieder auch nicht.
Das man so etwas mit den Platten machen konnte… wieder so etwas, was den Jungen aus der Provinz zum Staunen brachte.
Die karge Ausstattung der Räume, das Fehlen von Chi-Chi oder die eher spärlichen Lichteffekte — davon haben so viele Berichte erzählt. Auch, dass Jungs und Männer nicht nur die Lust am Leben vereinte, sondern dass auch häufig Vereinigungen noch vor Ort folgten, was das Entleeren der Blase auf dem Örtchen manchmal kompliziert machte. Das erspare ich mir an dieser Stelle.
Für zwei Jahre wurde das Front für mich zu einem magischen Ort. Schon die Fahrt in diesen toten Stadtteil wurde zum Ritual.
Tanzen, trinken, sich unendlich lebendig fühlen. Sich so geben, wie man sich fühlt. Damals verstand ich zum ersten Mal, wie sich „Heimat“ anfühlt.
Das von Willy gezeigte Versteck brauchte ich an diesem Abend übrigens nicht.
Danach war es aber schon ganz gut, zu wissen, wo es war. Schließlich habe ich meiner Mutter jede Woche eine andere Geschichte erzählt, wo ich denn wäre. Durch die „Zuführung“ Ihres Sohnes mitten in der Nacht der Lüge überführt zu werden. Das wäre mir doch unangenehm gewesen.
Mitte 1990 war ich dann nochmals da. Aber das fühlte sich nicht mehr richtig an. Eher wie die Begegnung mit einem Ex-Partner, mit dem einen nichts mehr verbindet.
Das Front — es gab in meinem Leben nie wieder einen Ort, an dem ich mich so aufgehoben und, ja, sicher gefühlt habe, wie dort.
Und wenn ich heute durch den Heidenkampsweg komme, werde ich immer noch sentimental.