Schlagwort-Archive: Lektüre

Charles Lewinsky: Melnitz

Schon lange wollte ich den Roman von Charles Lewinsky lesen, aber die über 700 Seiten ließen es angeraten, mit der Lektüre auf den Sommerurlaub zu warten. Die Entscheidung war richtig, denn andernfalls hätte ich mit tiefen Ringen unter den Augen am Arbeitsplatz gesessen, denn das Buch hat mich nicht losgelassen. Das Werk Lewinskys ist monumental, wie es sich für Familienchroniken gehört, denn nichts anderes wird hier erzählt. Die Geschichte der jüdischen Familie Meijer aus der Schweiz. Vom Auftauchen eines entfernten Verwandten im Jahre 1871 bis zum Ende des 2. Weltkriegs.

Der Autor erzählt aber nicht nur die fiktive Geschichte dieser jüdischen Familie sondern damit zugleich auch ein Stück Schweizer und Weltgeschichte. Sprachlich wunderbar und feinsinnig, einfühlsam und in seinem Grundtenor von Traurigkeit und Melancholie ist das Buch geprägt. Am Ende sind einem die Charaktere ans Herz gewachsen und fast zur eigenen Mischpoche geworden.

Auch wenn der Urlaub vorbei ist, die langen Herbstabende kommen mit Sicherheit!

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Joachim Fest: Ich nicht

Als Student der Geschichte kannte ich Joachim Fest nicht nur als Journalisten, sondern auch als Autoren einer der umfassendsten Biographien Adolf Hitlers. Den Menschen hinter diesen Texten kannte ich nicht. Einen Einblick in die prägenden Jugendjahre gewährt Fest in seinen Erinnerungen “Ich nicht”.

Glänzend geschrieben schildert er sehr lebendig Personen und Ereignisse, die ihn prägten. Einen Vater, prinzipientreu und von den Nazis aus dem Staatsdienst vertrieben, eine Mutter, die unter dieser Prinzipientreue litt und über den bewunderten Bruder. Abseits weitreichender politischer Analysen beschreibt Fest, wie die Nationalsozialisten die Zügel fester in die Hand nahmen und schreibt sich andeutungsweise die Erlebnisse des Krieges von der Seele. Darunter auch den Tod des geliebten Bruders. Wer an Zeitgeschichte interessiert ist oder gern Memoiren liest, dem sei dieses Buch empfohlen.

33 Augenblicke des Gücks

Es gibt Bücher und Autoren, die meiner Ansicht nach nur deshalb so gelobt werden, weil die deutschsprachige Gegenwartsliteratur nur mit wenigen wirklich stilsicheren und gleichermaßen fantasievollen Autoren gesegnet ist. 33 Augenblicke des Glücks ist ein solches Buch, das viel gelobt wurde, die Fragen nach dem Warum aber nicht beantwortet. Es hat für mich den Begriff Lesearbeit neu definiert.

Seite um Seite habe ich mich durch die Kurzgeschichten vorgearbeitet, immer auf der Suche nach einem Satz oder einer Handlung, die den Zauber eines Buches ausmachen können. Leider habe ich davon nichts gespürt. Mit einer bemerkenswert distanzierten aber auch leblosen Sprache ringt sich Schulze teilweise überraschende Enden seiner Geschichten ab, was bei mir aber oft genug den Eindruck hinterlassen hat, dass es hier lediglich um die Effekthascherei ging. Schade.

Cafe Heimat von Louise Jacobs

Die Geschichte und Geschichten von Unternehmen und Unternehmern gehört nicht unmittelbar zu der von mir bevorzugten Lektüre. Angeregt durch eine kleinere Rezension wanderte das Buch Cafe Heimat von Louise Jacobs auf meinem Bücherstapel auf dem Nachttisch.

Jacobs? Ganz richtig: Die mit der Krönung und dem Verwöhnaroma. Menschen meiner Generation werden sich auch noch an Frau Sommer erinnern, die stets gut gelaunt durch das bundesdeutsche Werbefernsehen turnte und Hausfrauen davon überzeugte, ihren Kaffee besser in die Spüle zu schütten, um dem lieben Gatten lieber die Krönung zu kredenzen.

Louise Jacobs hat die Geschichte ihrer Familie aufgeschrieben, wobei sie ihren Schwerpunkt weniger in den Anekdoten innerhalb des Kaffeerösterimperiums gesucht hat, sondern besonders intensiv auf Spurensuche in der weiblichen Linie Ihrer Vorfahren gegangen ist. Die Kaufmannsfamilie Jacobs trifft auf die sephardisch-jüdischen Jessuruns.

Hut ab vor diesem Erstlingswerk: Louise Jacobs nimmt den Leser mit auf eine spannend erzählte, amüsante, rührende und fundiert recherchierte Zeitreise. Absolut lesenswert!

Genazino: Mittelmäßiges Heimweh

Ich habe an dieser Stelle bisher keinen Hehl daraus gemacht, ein Bewunderer des Werks von Wilhelm Genazino zu sein. Mittelmäßiges Heimweh, sein jüngstes Werk, erzählt einmal mehr aus der Perspektive eines Menschen, der sich als Außenseiter fühlt. Wieder ist es die Welt eines mittleren Angestellten, in die uns Genazino führt. Dieter Rotmund zeichnet sich dadurch aus, dass er mit einem besonderem Verlust zurecht kommen muss. Denn beim Besuch in einer Kneipe fällt ihm plötzlich eines seiner Ohren ab. Ohne Schmerzen löst es sich einfach von seinem Körper, wie kurze Zeit später auch noch ein Zeh. Dies ist aber nicht der einzige Verlust, den Rotmund erleben muss.
Wie gewohnt erzählt Genazino detailreich in einer Prosa, die einen trunken machen kann. Verglichen mit „Liebesblödigkeit“ habe ich den Titel aber deutlich schwächer empfunden.